Wir unterschätzen die nächste Welle
Der Wochenkommentar
Mai 2024 – Bei Künstlicher Intelligenz, synthetischer Biologie und anderen neuen Technologien stellt sich die Frage, ob es sich hier um Tsunamis handelt oder um Wellen, die wir reiten können.
Ein Kommentar von Dr. Cyrus de la Rubia
Was haben Feuer, das Internet, der Verbrennermotor und Halbleiter gemeinsam? Sie sind sämtlich Universal-Technologien, auch General Purpose-Technologien genannt. Von denen gab es bislang in der gesamten Menschheitsgeschichte noch gar nicht so viele, nämlich genau zwei Dutzend, wie in der groß angelegten wissenschaftlichen Studie „Economic Transformations“ festgestellt wird. Sie haben jeweils Entwicklungswellen ausgelöst, die die Eigenschaft haben sich gegenseitig zu verstärken und nachgelagerte Innovationswellen auszulösen. Ohne die Erfindung der Halbleiter wäre etwa das Internet nicht denkbar, das wiederum zur Erfindung des Smartphones Anlass gegeben hat, ohne dass die Beförderungsplattform Uber nicht entstanden wäre, die wiederum auf GPS-Systeme angewiesen ist usw. Die Universal-Technologien haben zudem die außerordentliche Eigenschaft, im Zeitablauf qualitativ hochwertiger zu werden und gleichzeitig massive Kostensenkungen zu erfahren. 1958 verlangte Fairchild Semiconductor – die Firma, die als Erfinderin der Mikrochips gelten kann – pro Halbleiter-Transistor 1,50 US-Dollar. Heute werden im Sekundentakt Transistoren in zweistelliger Billionenzahl hergestellt und kosten daher pro Stück nur noch ein Milliardstel US-Dollar.
Plausible Thesen
Die steile These von Mustafa Suleyman, einer der bekanntesten KI-Pioniere und Autor des 2023 erschienenen Buchs „The Coming Wave“, ist, dass wir heute am Beginn eines Erfindungszyklus von gleich mindestens fünf Universaltechnologien stehen. Und diese Technologien – das sind insbesondere die Künstliche Intelligenz und die synthetische Biologie (u.a. Gentechnik), dazu noch der Quantencomputer, die Kernfusion und die Nanotechnologie – werden sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu einer bislang nicht gesehenen Welle aufbauen. Die Menschheit ist dabei, so Suleyman, die Welle und ihre Auswirkungen gnadenlos zu unterschätzen. Das liegt auch daran, dass diese Technologien, einmal eingeführt, rasch zu einer Selbstverständlichkeit werden. Oder können Sie sich eine Welt ohne Internet, geschweige denn ohne Schrift und Feuer vorstellen?
Sind diese Thesen plausibel? In weiten Teilen sind sie das und das Buch führt noch viele weitere Verzweigungen vor Augen, über die man sich als interessierter Bürger in jedem Fall bewusst werden sollte.
Zum Wohle der Menschheit
Ein eindrückliches Beispiel, wie Künstliche Intelligenz die Innovationswelle in der synthetischen Biologie verstärkt, bietet beispielsweise die Erforschung der Proteine, die die Bausteine des Lebens sind und ohne die es beispielsweise Blut, Hormone, Muskeln und Haare nicht gäbe. Denn um die Funktionsweise von Proteinen zu verstehen, genügt es nicht den Bauplan eines Lebewesens in der Form seiner DNA zu kennen – die DNA-Sequenz des menschlichen Genoms hatte man bereits mit Hilfe von Super-Computern in der ersten Hälfte der 2000er nahezu vollständig entschlüsselt. Vielmehr muss man auch verstehen, wie sich die Proteine falten. Dafür gibt es grundsätzlich aber Milliarden von Möglichkeiten, so dass lange Zeit kein Computer in der Lage war, vorherzusagen, welche Funktion die Proteine letztlich haben. Bis die KI Alphafold eingesetzt wurde, mit der ein Quantensprung bei der Bestimmung der Proteine erzielt wurde.
Gleichzeitig können sich Forscher heute schon vorstellen, dass die DNA eines Lebewesens in Zukunft für den Bau von Computerchips eingesetzt werden, denn sie sind ein millionenfach effizienterer Speicher und würden die Chipindustrie in einer komplett neue Sphäre katapultieren.
Dass KI und synthetische Biologie weitere sensationelle Innovationen auslösen werden, die zum Wohle der Menschheit sein können, liegt auf der Hand. Schon gibt es Wasser reinigende Proteine, gezüchtete Organe, die Organspenden überflüssig machen können, Viren, die Batterien herstellen, und Bakterien, die CO2 in Industriechemikalien umwandeln können. KI und synthetische Biologie sorgen auch für erhebliche Fortschritte in der personalisierten Medizin, die etwa bei der Bekämpfung von Krebs entscheidend sein könnte. KI allein wiederum kann weniger existenzielle Dinge wie Rechtsstreitigkeiten automatisch abwickeln, detaillierte Börsenberichte erstellen oder handgezeichnete Bilder in Webseiten übersetzen.
Meist hapert es noch an der Skalierbarkeit bzw. an den Kosten, die Erfahrung mit neuen Technologien und Innovationen aus der Vergangenheit macht aber klar, dass dies alles tatsächlich nur eine Frage der Zeit ist.
Die Sache mit der Asymmetrie
Es ist keine Überraschung, dass KI, synthetische Biologie und die anderen Technologien auch ihre Schattenseiten haben. Dies war in der Vergangenheit bei allen Universaltechnologien der Fall, aber dieses Mal gibt es einen Unterschied. Das wird deutlich an der in diesem Ausmaß besonderen Eigenschaft der Asymmetrie. Damit ist gemeint, dass beispielsweise ein KI-Programm so viel Text schreiben kann, wie die gesamte Menschheit. In Kombination mit Fake News kann dies einen Informationsoverkill bedeuten, der die Funktionsweise von Demokratien in Frage stellt. Möglich ist auch, dass nur eine Person einen Schwarm von mehreren tausend bewaffneten Drohnen steuert und die herkömmliche Kriegsführung zwischen Ländern in Frage stellt, und dadurch Friedensschlüsse erschwert oder unmöglich macht. Ansätze dieser Art der Kriegsführung sehen wir möglicherweise schon in Teilen dieser Welt. Oder dass über ein einziges pathogenetisches Experiment eine globale Pandemie ausgelöst wird. Vorstellbar ist in Zukunft auch, dass mit nur einem Quantencomputer – die bislang existierenden Exemplare sind lediglich im experimentellen Betrieb – die gesamte Verschlüsselungsinfrastruktur der Welt geknackt wird.
Ein schmaler Pfad
Und deswegen ist eine zentrale Botschaft von Suleyman, dass die hier genannten revolutionären Technologien u.a. multilaterale Abkommen und Regulierungen eingehegt werden müssen. Das ist alles andere als ein einfaches Unterfangen, denn der Menschheit muss es gelingen, den schmalen Pfad zwischen einer techno-autoritären Dystopie auf der einen Seite und einer durch naive unregulierte Technologieoffenheit verursachte Katastrophe zu finden. Abgesehen davon, dass Verbote kaum Erfolgsaussichten haben, muss auch klar sein: Ohne die neuen Technologien lassen sich die großen Menschheitsprobleme wie etwa Klimawandel, nachhaltige Lebensmittelsicherheit und die demografiebedingten Produktivitätsverluste nicht lösen.
„The Coming Wave“ klärt auf über die Chancen und Risiken der neuen Universaltechnologien, die unser Leben in den nächsten Jahren und Jahrzehnten im Alltagsgeschehen, in der Wirtschaft und auf der weltpolitischen Ebene prägen werden, zum Guten und zum Schlechten. Man handelt leichtsinnig, wenn man Themen wie diese ignoriert.